Wochenlang saugende Kälber

Die Debatte um Bio 3.0 und damit auch um die Perspektive des Ökolandbaus geht weiter

Ihren zweiten Versuch schließen die Autoren mit einem Wunsch: „Wir hoffen, dass am Ende der Diskussion ‚Ökolandbau 3.0’ unsere Bewegung gestärkt mit einer klaren Agenda in die Auseinandersetzung mit gegenläufigen Interessen von Gesellschaft und Industrie geht.“ So schreiben es die Präsidenten und Vorsitzenden von Bioland, Naturland, Bio Suisse und Bio Austria sowie Urs Niggli vom FiBL, der in dem gesamten Prozess so etwas wie der Federführer ist, in dem im September 2015 veröffentlichten, überarbeiteten Papier über eine Perspektive für den Ökolandbau unter dem Titel: Bio 3.0. Vor dem Hintergrund des Dilemmas stagnierender Umstellungszahlen wollen die Autoren den Ökolandbau aus der Nische holen, indem sie ihn zu einem niedrigschwelligen, im ersten Papier noch ausdrücklich zweistufigen, Nachhaltigkeitsmodell entwickeln. Dieses soll durch eine Öffnung gegenüber technologischen Errungenschaften der industriellen Landwirtschaft bis hin zur Prüfung gentechnischer Methoden den Rückstand des Ökolandbaus bei der Leistung – ausschließlich definiert über den Ertrag – verringern und ihn damit für den vermeintlich sonst nicht umstellungswilligen konventionellen Bauernsohn attraktiv machen. Nach harscher Kritik vor allem innerhalb des Bioland-Verbandes änderte sich einiges im Ton; die grundsätzliche Idee, man müsse den weitestgehend eindimensionalen Wettbewerb der konventionellen Landwirtschaft um Effizienz und Produktivitätssteigerung mitmachen, blieb. Das brachte den Autoren aktuell den wohlwollenden Applaus – getreu dem Tenor: Na, nun haben endlich ein paar kluge Köpfe beim Ökolandbau erkannt, was wir doch immer schon wussten – der deutschen Landwirtschaftsgesellschaft (DLG) ein. In ihren aktuellen DLG-Mitteilungen schreibt sie vom „Vordenker“ Urs Niggli, der mittels Innovationskultur den Ökolandbau den konventionellen Produktionsleistungen wieder näher bringen wolle. „Unter diesem Stichwort werden – man lese und staune – sogar neue Zuchtmethoden für resistente Sorten (die heute noch gern als Gentechnik verunglimpft werden) oder biologische Pflanzenschutzmittel und Dünger in die Diskussion gebracht. Diese dürfte hart werden: ‚Bio goes Monsanto' – das wäre ebenso eine Belastungsprobe für die Branche wie der Verzicht auf das ‚bäuerliche' als Voraussetzung dafür, in globalisierten Agrarstrukturen überhaupt noch eine Rolle zu spielen.“ Frage des Stils Ob diese Aufnahme in der zumindest landwirtschaftlichen Öffentlichkeit dem oben zitierten Wunsch nach der Stärkung der Bewegung für die Auseinandersetzung mit gegenläufigen Interessen dient, darf bezweifelt werden. Selbst wenn man den DLG-Tweedjackenträgern eine Überinterpretation nach Gutsherrenart vorwerfen könnte, so muss man doch reflektieren, dass das ein Stück weit ein Bumerang ist, eine Reaktion auch auf den in Teilen vorhandenen Gutsherrenschreibstil des Bio-3.0-Papiers. Auch in der überarbeiteten Version wird bedauernd erwähnt, dass sich der Verbraucher ein idealisiertes, nicht zutreffendes Bild des Ökolandbaus etwa von „wochenlang bei ihren Müttern saugenden Kälbern“ mache, welches durch Kommunikation gerade gerückt werden müsse. Zum einen ist das derselbe schlechte Stil, in dem der Bauernverband die Deutungshoheit über richtige und falsche Produktionsmethoden allein für sich beansprucht, dem Verbraucher und seinem gesunden Menschenverstand ein ernsthaftes Urteilsvermögen abspricht und dementsprechend Missstände in der Tierhaltung ausschließlich wegkommunizieren will. Zum anderen gebietet sich hier mehr Offenheit, weil es immer schon eine Qualität des Ökolandbaus war und ist, offener gegenüber gesellschaftlichen Ansprüchen wie auch gegenüber ungewöhnlichen Ideen und Methoden zu sein. Ironischerweise steht in dem auch existierenden internationalen IFOAM-3.0-Papier, welches in Teilen einen weiteren Blick aufs Thema eröffnet, im Kapitel zum Bedarf an Innovationen die muttergebundene Kälberaufzucht in der Milchviehhaltung als Beispiel für die fortschrittliche Anwendung agrarökologischer und ethologischer Methoden. Ein neuer Debattenbeitrag „Die biologische Land- und Lebensmittelwirtschaft einschließlich des Handels muss ihre überlegene, differenzierte Produktivität überzeugend und messbar im Alltag und in der politischen und wissenschaftlichen Debatte beweisen. Modellcharakter und Innovationsführerschaft der Biobewegung entstehen da, wo sich natürliche, wirtschaftliche und soziale Kreisläufe auf lokaler, regionaler und internationaler Ebene gegenüber linearen, industriellen Wachstums- und Expansionsmodellen durchsetzen.“ Das haben nun Oliver Willing und Benny Härlin von der Zukunftsstiftung Landwirtschaft als Debattenbeitrag zu Bio 3.0 geschrieben. Sie kritisieren, so Willing, dass Bio 3.0 „sehr technologiefixiert“ daherkomme, obwohl es die Gesamtleistungen des Ökolandbaus doch gut beschreibe. Es gelte letztlich die Frage zu beantworten, ob man sich am System der konventionellen Agrarproduktion abarbeiten wolle oder den Ökolandbau als etwas betrachte, das anders funktioniert und neben den ökologischen und ökonomischen auch soziale und kulturelle Leistungen erbringt. Schließlich, so schreiben die Autoren, sei vielleicht das größte Pfund, mit der die Biobewegung wuchern könne, die Integration aller an der Wertschöpfungskette sowie dem medialen und politischen Umfeld Beteiligten. Nur weil man die Erfahrung gemacht habe, dass diese Integration und Wertebindung im Wachstum nachlassen könne, spreche dies nun noch nicht für eine hemmungslose Nachahmung der Fehlentwicklungen des konventionellen Agrarsystems. Oliver Willing ist mehr als skeptisch, ob man sich auf eine von Angst getriebene Debatte über die Ertragslücke zwischen konventionellen und ökologischen Äckern einlassen sollte. Wichtig ist ihm, dass es überhaupt eine breite Debatte über das Papier gibt. Zwar spricht niemand den Schreibern dahin gehende Offenheit ab, organisiert ist es aber bislang nicht. Kritiker konnten Kritik anbringen; was davon aufgegriffen wurde, blieb den Schreibern überlassen. Ginge es nach Willing, sollte es eine Plattform geben, zum Beispiel beim BÖLW, wo eine Diskussion in der Öffentlichkeit und in der Breite stattfinden kann. Nur dann kann am Ende eine Perspektive entstehen, die tatsächlich die Branche stärkt, weil sie, wenn nicht von allen, so doch mindestens von den meisten Akteuren getragen wird.
01.04.2016
Von: cs