Stolpe und Corona

In der letzten Bauernstimme berichtete ich davon, wie Mitte März das Coronavirus in unser Dorf kam und wie auch ich infiziert wurde. Vielen Dank für die vielen Mut machenden Mails und Nachrichten, die mich anschließend erreichten. Sie haben gewirkt: Ich bin wieder gesund. Zur Erinnerung: Auf einer Ausschusssitzung des Gemeinderates am 11. März saß ich mit vierzehn anderen Kommunalpolitikern im Stolper Dorfgemeinschaftshaus zusammen. Wie sich später herausstellte, war einer von uns – Axel, unser zweiter stellvertretender Bürgermeister – zu diesem Zeitpunkt coronapositiv. Zumindest fünf von uns sind mutmaßlich an diesem Abend infiziert worden. Nachdem Axels Coronainfektion nachgewiesen worden war, wurden alle, die an jenem Abend anwesend waren, sowie deren im Haus lebende Familienangehörige gesundheitsamtlich unter häusliche Quarantäne gestellt. Also blieben Birte und ich erstmal zu Hause. Und nicht nur wir. Insgesamt gab es vier Veranstaltungen an vier aufeinanderfolgenden Tagen – Fraktionssitzung der Wählergemeinschaft, Bau-Wege-Umweltausschusssitzung des Gemeinderates, Dienstabend der Feuerwehr, Hochzeitsfeier des ehemaligen Gemeindewehrführers –, die dafür sorgten, dass von eintausenddreihundert Stolper Einwohnern insgesamt neunzig unter Quarantäne gestellt wurden. Anschließend wurden die Medien auf Stolpe aufmerksam. Der NDR titelte im Netz: „Stolpe – ein Dorf unter Quarantäne“. Statt neunzig Leute in Quarantäne kam bei vielen an: Neunzig Prozent in Quarantäne. Was dazu führte, dass Stolper Handwerker in Einzelfällen ihre Aufträge verloren, weil potenzielle Auftraggeber niemanden aus Stolpe im Haus haben wollten. Beide Nachbarn Am 22. März starb unser zweiter stellvertretender Bürgermeister – siebzig Jahre alt und krebskrank – an den Folgen der Coronainfektion. Die Schlagzeile des SHZ-Zeitungsverlages lautete: „Stolpe: Stellvertretender Bürgermeister an Coronavirus gestorben“. Was dazu führte, dass unsere Tochter Marie bei Facebook Kondolenzschreiben erhielt. Denn Axel war der zweite stellvertretende Bürgermeister. Der erste stellvertretende Bürgermeister bin ich. So schnell wird man für tot erklärt, ohne es zu merken. Unterdessen wurde Axels Nachbar Uwe – achtzig Jahre alt und einer der besten Freunde meiner Eltern – mit dem Coronavirus ins Krankenhaus eingeliefert. Er starb am 30. März. Sechs Wochen zuvor hatte ich auf seinem runden Geburtstag vor hundert Gästen meine Geschichten erzählt. Auch Axel hatte dort gesessen und zugehört und gelacht und Beifall geklatscht. Nun waren sie beide tot. Wochenlang gab es zwei Coronatote im ganzen Kreis Plön. Beide aus Stolpe. Beide aus dem Ortsteil Nettelau. Beide direkte Nachbarn. Axel und Uwe. Schlapp und antriebslos Hier bei uns im Haus und auf dem Hof ging das Leben weiter. Mein Azubi Burner musste in häuslicher Quarantäne bleiben; mein Mitarbeiter Sven ebenfalls, allerdings gab es für ihn eine Ausnahmegenehmigung. Er durfte von zu Hause direkt zum Hof fahren, um zu arbeiten. Um anschließend wieder nach Hause zu fahren. Zu dem Zeitpunkt, als ich von meiner Infektion erfuhr, dachte ich noch, ich könne mit Sven zusammen die Tiere versorgen. Aber nach drei Stunden im Stall war ich so fertig, dass ich mich anschließend erstmal aufs Sofa legen musste, um zu schlafen. Birte schimpfte mit mir und sagte, ich sei krank, ich müsse mich schonen. Zum Glück war unser Sohn Peer gerade rechtzeitig aus Costa Rica zurückgekehrt. So konnte er zusammen mit Sven die Arbeit auf dem Hof erledigen, während ich wie so ein typischer Opa ab und zu mal über den Hof schlich, um zu gucken, ob alles in Ordnung ist. Insgesamt zwölf Tage lang änderte sich an meinem Zustand herzlich wenig. Ich war schlapp und antriebslos und schlief die meiste Zeit. Birte kochte die leckersten Sachen, aber ich hatte null Appetit. Nie hatte ich das Gefühl, schwer oder ernsthaft krank zu sein. Aber dass ich keinen Appetit hatte, war wirklich ungewöhnlich. Lustlos zwang ich mich zum Essen. Offensichtlich stimmte etwas mit mir ganz und gar nicht. Erst am dreizehnten Tag stellten sich erste Verbesserungen ein. Die Müdigkeit verschwand und der Appetit kehrte zurück. Gleichzeitig bekam ich heftige Zahnschmerzen und meine rechte Wange schwoll an. Birte sagte: Wurzelvereiterung. Am fünfzehnten Tag nach meinen ersten Symptomen rief ich beim Gesundheitsamt an und fragte nach, ob und wo ich meinen Zahn versorgen lassen könnte. Ursprünglich dachte ich, ich sei unter Quarantäne, bis ich erneut und dann negativ getestet worden sei, aber während meiner Quarantänezeit hatte das Gesundheitsamt die Strategie geändert. Man sagte mir sinngemäß, es sei fünfzehn Tage her, dass ich krank geworden sei, seit zwei Tagen habe ich keine Symptome mehr und ich sei offensichtlich noch am Leben. Also müsse ich das Virus wohl überwunden haben. Ab dem 31. März wurde für Birte und mich die Quarantäne aufgehoben. Meine erste Tat in Freiheit war es, zu meiner Zahnärztin zu fahren, um mir den Eiter aus der Backe kratzen zu lassen. Es fühlte sich großartig an. Meines Wissens habe ich offensichtlich niemanden mit dem Virus angesteckt. Unsere Kinder und meine Mitarbeiter sind gesund geblieben. Am Erstaunlichsten fand ich, dass Birte negativ getestet wurde, dabei hatten wir in der gemeinsamen Quarantäne keinen Abstand gehalten und zusammen gelebt wie immer. Birte hatte gehofft, es mit fast null Symptomen gehabt zu haben und nun – so wie ich – immun zu sein. Vielleicht ist sie es. Herausfinden kann man das nur mit einem Antikörpertest. Was bleibt? Es bleibt die Trauer über die zwei Stolper, die gestorben sind. Die Freude darüber, dass eine weitere Kollegin aus dem Gemeinderat nach drei Wochen im künstlichen Koma unter Beatmung nun auf dem langsamen Wege der Besserung ist. Und die Kompressionsstrümpfe, die ich für die nächsten drei Monate tragen muss, weil die zwei Wochen Rumgammeln auf dem Sofa tatsächlich ausgereicht haben, um bei mir eine Thrombose auszulösen. Ich habe mir die Dinger maßanfertigen lassen, in den Trendfarben Mohn und Blaubeere. Würde Birte mich sehen, wie ich morgens nach dem Aufstehen im Badezimmer sitze und mir mit anmutiger Sinnlichkeit meine Strümpfe anziehe, ich bin mir sicher, sie würde nicht an sich halten können. Schade nur, dass ich meistens vor ihr aufstehe ... . Ach ja, abends habe ich jetzt viel Zeit. Meinen letzten Auftritt hatte ich am 14. März. Für März, April und Mai sind bislang 35 Auftritte abgesagt worden. Vielleicht komme ich jetzt endlich dazu, meinen lang geplanten Roman zu schreiben. Oder wenigstens das Büro aufzuräumen.
05.05.2020
Von: Matthias Stürwoldt, Bauer aus Stolpe

Matthias Stürwoldt, Bauer aus Stolpe