Chancen ergreifen!

Was sich die Europäische Kommission (KOM) in ihrer am 20. Mai veröffentlichten Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (Farm to Fork) vorgenommen hat, kann getrost als Novum bezeichnet werden. So sollen die Nährstoffverluste der EU bei gleichbleibender Bodenfruchtbarkeit bis 2030 um mindestens 50 % reduziert werden. Gleiches gilt für den Einsatz von Pestiziden. Der Anteil des Ökolandbaus soll hingegen auf 25 % ansteigen. Auf Seite eins ihrer Strategie bezeichnet die KOM diese als „Kernstück“ ihres europäischen „Green Deal“. Dieser im Dezember 2019 von der Kommissionpräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) veröffentlichte Vorschlag gibt das Ziel aus, die Wirtschaft der EU bis 2050 klima- und ressourcenneutral umzubauen und dabei ökonomisch und sozial niemanden im Stich zu lassen. Ein Novum sind aber nicht nur die ambitionierten und konkret formulierten Ziele der Strategie – es ist vor allem die erkennbare Haltung. Im Übergang in ein nachhaltiges Lebensmittelsystem sieht sie „enorme wirtschaftliche Möglichkeiten“. Bäuerinnen und Bauern, die schon heute „nachhaltige Verfahren“ anwenden, sollen dafür „entlohnt“ werden. Kurz: es scheint, als wolle die KOM die scheinbare, in der Vergangenheit oft prägende, Diskrepanz zwischen Ökologie und Ökonomie endlich auflösen. Bemerkenswert ist zudem, dass die KOM diesen Anspruch nicht im luftleeren Raum stehen lässt, sondern konkret mit den aktuellen Verhandlungen um die Gemeinsame europäische Agrarpolitik (GAP) nach 2020 verknüpft. Insbesondere die bereits 2018 für die GAP vorgeschlagenen „Öko“-Regelungen (Eco-Schemes), deren Einführung bei konsequenter Umsetzung nicht weniger bedeuten könnte als den Einstieg in die Qualifizierung der Gelder der ersten Säule, beschreibt sie in ihrer Strategie als „wichtige Finanzierungsquelle“. Und: Dieser Hinweis an die Mitgliedsstaaten kommt zu einer Zeit, in der diese an exakt der Ausgestaltung eben dieser „Öko-Regelungen“ arbeiten. Auch wenn Bund und Länder dieses Instrument noch mit spitzen Fingern anfassen bzw. auf Maßnahmen wie z. B. Bracheförderung reduzieren wollen, liegt hier doch das größte Potenzial dieser GAP-Reform. Vor diesem Hintergrund war es von der KOM nur konsequent, in dem am 27. Mai vorgeschlagenen, stark von Corona geprägten Mehrjährigen Finanzrahmen der EU (MFR 2021-2027) beim Agrarbudget nicht erneut zu kürzen, sondern dieses auf den ersten Blick doch konstant zu halten. Gleichwohl fehlt dem Vorschlag eine klare Zweckbindung der Mittel. Diese wäre aber, gerade vor dem Hintergrund, dass die Gelder der GAP nicht ausreichen werden, um allen in „Farm to Fork“ bzw. „Green Deal“ formulierten Zielen gerecht zu werden, besonders wichtig. Was es deswegen zusätzlich braucht, ist eine Marktordnung, die Bäuerinnen und Bauern endlich in die Lage versetzt, gerechte Preise zu erzielen, um auch Investitionen tätigen zu können. Gleiches gilt für eine klare und verbindliche Kennzeichnung. Auch von soliden, über Verbandsgrenzen hinweg erarbeiteten Konzepten wie dem des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung (Borchert-Kommission) brauchen wir mehr. Und zweifelsohne braucht es zupackende und mutige PolitikerInnen, die die Zeichen der Zeit erkennen und sich an die Spitze von zukunftsträchtigen Veränderungen stellen. Die Merkel-Vertraute Ursula von der Leyen versucht dies offenbar. Dem lauten Ruf der Agrar- und Ernährungsindustrie, unter dem Deckmantel von Ernährungssicherheit und Corona alle sozialen und ökologischen Belange hintenanzustellen, erteilte sie mit Veröffentlichung der „Farm to Fork“-Strategie zunächst eine Absage. Anders Julia Klöckner: Sie steht stoisch auf der Bremse und wird nicht müde, die Einkommenswirkung der GAP (also v. a. für flächenstarke Betriebe) zu betonen sowie die Ergebnisse der Borchert-Kommission schlicht zu übergehen. Es wird die Aufgabe unserer Bewegung sein, Kanzlerin Merkel und ihr Kabinett während der im Juli beginnenden EU-Ratspräsidentschaft Deutschlands mächtig unter Druck zu setzen und sie aus den immer offensichtlicher werdenden Griffen der Agrar- und Ernährungsindustrie zu lösen. Die Gesamtgemengelage bietet eine mächtige Chance für uns, ergreifen wir sie!
12.06.2020
Von: Phillip Brändle

Phillip Brändle, nach einigen Jahren im AbL-Bundesvorstand nun hauptamtlicher Mitarbeiter in der AbL-Bundesgeschäftsstelle