Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs (Spr. 12.10)

Kommentar

Gutachten wissenschaftlicher Beiräte für Agrarpolitik haben eine lange Tradition. Eines von 1962 wirkt bis in die Gegenwart. Zur Frage einer Absenkung des deutschen Getreidepreises als dem Eckpreis der agrarischen Erzeugung im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Agrarpolitik in der EWG verfassten Plate, Woermann u.a. ihr „Professorengutachten“ mit der Empfehlung „einer notwendigen Steigerung der Arbeitsproduktivität im Zusammenhang mit der Veränderung der Betriebsgrößenverhältnisse und dem Übergang einer großen Zahl von Arbeitskräften in andere Berufe“. Sie öffneten die Büchse der Pandora, ihr entschlüpfte das agrarpolitische Prinzip des „Wachsens oder Weichens“. Die Bauern wüteten regelrecht dagegen. Auf Demonstrationen lauteten Parolen „Hängt sie auf“ oder „Schlagt sie tot“. Ein Bauer drückte es in einem Vierzeiler milder aus: „Gebt dem Plate einen Hof, strukturgerecht nach seinem Plan, wo er den Bauern, die so doof, es richtig einmal zeigen kann“. Konkret wurden die Maßnahmen 1968 im „Mansholt-Plan“. Hier wurden Förderrichtlinien und Sozialpläne entwickelt, phantasievolle Betriebsmodelle beschrieben und Betriebsgrößen genannt: 60 Kühe, 600 Mastplätze. Auf dem deutschen Bauerntag 1971 in Kiel war Agrarkommissar Mansholt als Redner geladen. Die Bauern tobten gegen Sozialismus und Agrarindustrie. Sie sind den Weg des „Wachsens oder Weichens“ nicht mit Begeisterung und fliegenden Fahnen gegangen. Der Widerstand wurde ihnen von Politik und Wissenschaft, von Beratung, Ausbildung, Förderung und Sozialmaßnahmen gründlich ausgetrieben. Halb zog man sie, halb sanken sie hin. Wer eine Agrarwende will, wer eine Neuorientierung der Tierhaltung fordert und fördern will, der muss die Bauern hier abholen. Im neuen Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats vom März 2015 wird die Notbremse gezogen: „Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik hält die derzeitigen Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere für nicht zukunftsfähig.“ Die Gefühle der Verbraucher gegenüber Tieren wie auch die der Tiere selbst werden zum Maßstab wissenschaftlicher Bewertungen. Nicht Statistiken bringen die Professoren in Bewegung und nur im geringen Maße das Kaufverhalten der Verbraucher, sondern es ist der Druck der Straße – nicht zuletzt die großen Demonstrationen in Berlin – und die in den Medien transportierten Bilder und Berichte. Die Positionen des Gutachtens haben etwas ultimatives, sind eine Zäsur. Als ob es dahinter kein Zurück mehr gibt. Die Bauern spüren es. Im Vorstand des Bauernverbands Westfalen-Lippe fragt ein Mitglied: „Wer ist uns eigentlich noch wohlgesonnen?“. Dabei sind die Bauern bereit, sich wieder auf den Weg zu machen. Die 60 Millionen Euro der Handelsketten im Rahmen der „Tierwohl“-Initiative sind nahezu verteilt, allerdings auch nur für relativ geringfügige Änderungen in Stall und Haltung. Die Anforderungen, die sich aus dem Gutachten ergeben, sind nur mit Einschränkungen in alten Ställen umsetzbar. Um Klimazonen, Stallstruktur und Zugang zu Stroh zu schaffen, reicht es nicht, die Spalten zuzubetonieren. Die Wende in der Tierhaltung braucht ebenso viel Entwicklungsstrategien, Beratung, Ausbildung, Förderung und Zeit wie sie die Intensivhaltung begleitet haben. Erfahrungen aus dem Neuland-Programm können eine Grundlage sein. Raffiniert mutet die Position des Gutachtens an, dass durch eine Verbesserung der Haltungsbedingungen für das Einzeltier „der Rolle der Betriebsgröße (Massentierhaltung) entgegengewirkt werden kann“. Gerade auch Bilder von riesigen Tierzahlen in Megaställen mindern die Akzeptanz industrieller Tierproduktion. Bei der Abschaffung der Käfighaltung ist es jedoch „gelungen“: 80 Unternehmungen halten nach wie vor die Hälfte der deutschen Legehennen. In der Milcherzeugung wird die Anzahl der gehaltenen Tiere ein Qualitätsmerkmal werden, wenn Weidegang zur Bedingung gemacht wird. Für die Marktpreisgestaltung bleibt die gesamte Erzeugungsmenge ein wesentlicher Faktor. Verbesserung der Haltungsbedingungen allein – ob als Initiative von Erzeugern oder immer mehr durch den Handel – werden ihn weniger beeinflussen als eine notwendige ordnungspolitische Regulierung z.B. durch Bauordnungsrecht, Filtererlasse u.ä. Ausreichende Markterlöse sowie förder- und ordnungspolitische Unterstützung sind Voraussetzungen für ein Gelingen der Wende in der Tierhaltung in einer bäuerlich verfassten Landwirtschaft. Sonst wird aus dem „Mengenwachstum oder Weichen“ ein „Qualitätswachstum oder Weichen“.
26.05.2015
Von: Günter Völker, Sauenhalter in Westfalen