Großbritannien will neue Gentechnik deregulieren

Bislang galten im Vereinigten Königreich die Gentechnikgesetze der EU. Diese Gesetze schreiben vor, dass alle gentechnisch veränderten Organismen (GVO) einer Sicherheitsbewertung, Rückverfolgbarkeit und GVO-Kennzeichnung unterzogen werden müssen. Seit dem Brexit ist die britische Regierung jedoch entschlossen, „den außergewöhnlichen Biowissenschaftssektor des Vereinigten Königreichs von den Anti-GVO-Vorschriften zu befreien", wie es der ehemalige Premierminister Boris Johnson ausdrückte. Nach einer öffentlichen Konsultation im vergangenen Jahr hat die britische Regierung einen Gesetzesentwurf mit der Bezeichnung Genetic Technology (Precision Breeding) Bill (etwa Gesetz zur gentechnischen Präzisionszüchtung) vorgelegt, der derzeit das Parlament durchläuft.

"Präzisionszucht"?

In dem Gesetzentwurf wird vorgeschlagen, eine Kategorie von GVO zu deregulieren (d. h. die gesetzlichen Schutzmaßnahmen aufzuheben), die als „präzisionsgezüchtete Organismen" oder PBO bezeichnet werden - ein Begriff, für den es keine anerkannte wissenschaftliche Definition gibt.

Nach Angaben der britischen Regierung handelt es sich bei „präzisionsgezüchteten" Pflanzen und Tieren um solche, bei denen gentechnische Veränderungen vorgenommen wurden, die ihrer Ansicht nach auch durch traditionelle Züchtung oder natürliche Prozesse hätten entstehen können. In dem Gesetzentwurf ist jedoch nicht festgelegt, wie ein Entwickler nachweisen muss, dass es sich bei seinem GVO um einen „präzisionsgezüchteten" Organismus handelt, der angeblich auf natürliche Weise hätte entstehen können. Offenbar müssen sie nur erklären, dass es sich um einen solchen handelt, um der behördlichen Aufsicht zu entgehen.

Der britische Gesetzentwurf gilt nur für England und nicht für Schottland, Wales oder Nordirland. Er ähnelt dem Vorschlag der EU-Kommission, die die GVO-Vorschriften für Produkte neuer gentechnischer Verfahren (die sie als „neue genomische Techniken“ bezeichnet) für Pflanzen aufweichen will, die ihrer Ansicht nach auch durch herkömmliche Züchtung oder zufällige Mutationen hätten erzeugt werden können.

Freisetzung und Anbau per Anmeldung

In England sind seit April 2022 Rechtsvorschriften in Kraft, die die Sicherheitskontrollen bei experimentellen Freisetzungen neuer GV-Pflanzen abschaffen. Seitdem müssen Freisetzungen neuer gentechnisch veränderter Pflanzen nur noch bei Defra, dem britischen Umwelt- und Lebensmittelministerium, angemeldet werden. Sie bedürfen keiner behördlichen Genehmigung mehr. ACRE (der Beratungsausschuss der Regierung für Freisetzungen in die Umwelt) hat in einem Leitfaden dargelegt, für welche GVO dies gilt.

Das „Gesetz zur gentechnischen Präzisionszüchtung“ gilt sowohl für experimentelle als auch für kommerzielle Freisetzungen. Sein Anwendungsbereich ist weit gefasst und umfasst Kultur- und Wildpflanzen, Bäume, Algen, Algen, Insekten, Fische sowie domestizierte und wilde Tiere. Er ist nicht auf Gen-Editing (eine der neuen Gentechniken, die durch den Gesetzentwurf dereguliert würden) beschränkt, sondern könnte für eine Reihe von gentechnischen Methoden gelten.

Mit dem Gesetzentwurf wird das Vorsorgeprinzip aufgegeben, das den EU-Gentechnik-Gesetzen ausdrücklich zugrunde liegt. Gentechnologien wie das Gen-Editing sind neu in der Lebensmittel- und Landwirtschaft, aber wenn der Gesetzentwurf ohne Änderungen verabschiedet wird, müssen „PBOs" vor ihrer Freisetzung keiner Risikobewertung für Gesundheit und Umwelt unterzogen werden. Die unbeabsichtigten Veränderungen des Genoms, die bei neuen Gentechniken auftreten, müssen nicht daraufhin untersucht werden, ob sie eine Gefahr für Verbraucher oder Wildtiere darstellen. PBOs müssen nicht über das gesamte Lebensmittelsystem zurückverfolgt oder nach dem Verkauf auf ihre Auswirkungen hin überwacht werden, noch werden sie für den Verbraucher als GVO gekennzeichnet. Niemand wird wissen, wo und wann sie angebaut wurden, so dass gentechnikfreie konventionelle und ökologisch wirtschaftende Landwirte eine Kontamination möglicherweise nicht vermeiden können.

Der Gesetzesentwurf sieht die Einrichtung eines öffentlichen Registers für PBOs im Zusammenhang mit Lebens- und Futtermitteln vor, aber es ist unklar, welche Informationen es enthalten wird.

Laut GMWatch schafft die Gesetzgebung einen gesetzlosen „Wilden Westen" für GVO-Entwickler.

Zwei experimentelle Freisetzungen von gentechnisch veränderten Pflanzen wurden im Rahmen der im April dieses Jahres erlassenen Verordnung angemeldet:

  1. Gentechnisch veränderte Tomaten mit Blättern und Früchten, die eine Vitamin-D-Vorstufe enthalten, entwickelt von Forschern des John Innes Centre in Großbritannien. Die Forscher verwendeten CRISPR/Cas, um Genfunktionen auszuschalten, die für die Reaktion der Pflanzen auf Stressbedingungen wichtig sind. Kritiker haben die Frage aufgeworfen, ob dies Auswirkungen auf die Inhaltsstoffe der Tomate hat, was zu Problemen bei der Lebensmittelsicherheit führen könnte, oder auf ihre Schutzmechanismen gegen Krankheiten. Es ist nicht bekannt, wie gut der menschliche Körper das Vitamin D aus den Tomaten aufnimmt - und es gibt effizientere Möglichkeiten, einen Vitamin-D-Mangel zu beheben.
  2. Eine Leindotterpflanze (falscher Flachs) mit verändertem Ölgehalt in den Samen, entwickelt von Rothamsted Research im Vereinigten Königreich. In der wissenschaftlichen Literatur wurden Fragen zu den möglicherweise geschwächten Abwehrmechanismen der Pflanze gegen Krankheiten oder klimatische Herausforderungen sowie zu den Risiken, die sie für Ökosysteme darstellen kann, aufgeworfen. 

Es gibt noch keine Hinweise darauf, ob oder wann diese Pflanzen auf den Markt kommen werden.

Weder präzise noch Züchtung

Mehr als einhundert Wissenschaftler und Politik-Experten haben eine Erklärung veröffentlicht, in der sie sich gegen die Verwendung des Begriffs „Präzisionszüchtung" zur Beschreibung des Gen-Editing aussprechen, mit der Begründung, dass es sich dabei weder um Präzision noch um Züchtung handelt. Sie erklären, dass die Ungenauigkeit dieser Techniken zu Veränderungen in der Zusammensetzung der Pflanzen führen kann, einschließlich der Produktion neuer Toxine und Allergene. Die Sachverständigen kommen zu dem Schluss, dass diese neuen Gentechniken Risiken bergen und Sicherheitsbewertungen, Anforderungen an die Rückverfolgbarkeit und die Kennzeichnung von GVO unterworfen werden sollten.

Breiter Widerstand

Weitere Kritik an dem Gesetzentwurf und der ihm zugrunde liegenden Politik kam von Landwirten, Vertretern der Lebensmittelindustrie, Umwelt- und Verbrauchergruppen, einzelnen Verbraucher- und Tierschutzgruppen sowie Rechtsexperten. Vierundsechzig führende Persönlichkeiten aus den Bereichen Lebensmittel, Landwirtschaft, Religion, Wirtschaft, Philanthropie und Wissenschaft im Vereinigten Königreich und in Europa haben Supermärkte und Unternehmen sowohl im Vereinigten Königreich als auch in der EU schriftlich aufgefordert, strenge Vorschriften für gentechnisch veränderte Produkte zu unterstützen und die Wahlfreiheit der Verbraucher zu schützen. Selbst der regierungseigene Ausschuss für Regulierungspolitik befand die Folgenabschätzung des Gesetzentwurfs für „nicht zweckmäßig".

Es ist wahrscheinlich, dass das Gesetz Anfang nächsten Jahres verabschiedet wird. Besorgte Gruppen setzen sich für Änderungen ein, die sinnvolle Risikobewertungen und Kennzeichnungen vorsehen. Die derzeitige Regierung, die über eine große Mehrheit im gewählten Unterhaus verfügt, hat sich jedoch allen bisher vorgeschlagenen Änderungen widersetzt. In der Zwischenzeit sollten sich die EU-Bürger bei ihren gewählten Vertretern dafür einsetzen, dass alle GVO weiterhin streng reguliert und gekennzeichnet werden.

Autorin: Claire Robinson, Co-Direktorin und Redakteurin von GMWatch, einer unabhängigen Organisation, die die Öffentlichkeit mit Nachrichten über GVO und damit in Zusammenhang stehende Pestizide versorgt. Übersetzung: Annemarie Volling, Gentechnik-Referentin der AbL

24.11.2022
Von: Claire Robinson in Bauernstimme, Dez 2022

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Gro%C3%9Fbritannien_will_Gentechnik_deregulieren_BS_Dez_2022.pdf