Wissenschaft fordert grundsätzliches Umdenken

„Veränderungen im Ackerbau und im Umgang mit Pestiziden – Glyphosat und Neonikotinoide sind nur Spitzen des Eisbergs – sind überfällig“, schreibt die Unabhängige Bauernstimme in ihrer Juni-Ausgabe mit Verweis auf das Ergebnis einer von einem wissenschaftlichen Expertengremium erstellten Studie. Das dort gezogene Fazit: „Die konventionelle landwirtschaftliche Pflanzenschutzpraxis hat einen Punkt erreicht, an dem wichtige Ökosystemfunktionen und Lebensgrundlagen ernsthaft in Gefahr sind. Bisherige Lösungsansätze sind an ihre Grenzen gekommen und es besteht dringender Bedarf zu handeln. Das kritische Hinterfragen lange akzeptierter Dogmen und Praktiken sowie eine interdisziplinäre Herangehensweise sind hierfür unabdingbar. Insgesamt müssen die vielfältigen Umweltbelastungen durch Pestizide im größeren Rahmen der europäischen Agrar- und Chemikalienpolitik gesehen und behandelt werden. In beiden Bereichen ist grundsätzliches Umdenken erforderlich.“ Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Nationalen Akademie der Wissenschaft Leopoldina fordern umfassendere Zulassungsverfahren für Pestizide, um ihre Auswirkungen auf die Umwelt besser zu kontrollieren. In ihrem Diskussionspapier zeigen sie auf, dass die derzeitigen Verfahren viele ökologische Auswirkungen im Freiland nicht abbilden. Die Autorinnen und Autoren empfehlen, die Zulassungsverfahren für Pestizide anzupassen, um den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln umweltverträglicher zu gestalten. Pflanzenschutzmittel sind oft länger im Boden und in Gewässern nachweisbar als im Rahmen der Zulassung beabsichtigt. Die Expertinnen und Experten schlagen daher unter anderem ein Beobachtungssystem vor, mit dem die langfristigen Auswirkungen der Pflanzenschutzmittel auf Ökosysteme nach einer zunächst zeitlich und räumlich begrenzten Zulassung überprüft werden. „Es sollte im Interesse aller sein, Anbau- und Pflanzenschutzstrategien zu erarbeiten, die langfristig ausreichende Erträge gewährleisten, ohne dabei die Umwelt nachhaltig zu schädigen. Wesentliche Grundlagen hierfür bieten u.a. ein konsequenter integrierter und ökologischer Pflanzenbau – d.h. Pestizideinsatz nur als ultima ratio, eine standortgerechte Frucht- und Sortenwahl, die Zucht von konkurrenzstarken und gegen Schaderreger resistenten Sorten und ein möglichst maßvoller Einsatz möglichst spezifischer, wenig persistenter Agrochemikalien. Wir plädieren zu diesem Zweck entschieden für einen partizipativen Ansatz mit allen betroffenen Akteuren. Basis der Verhandlungen sollten gemeinsame Werte sein, insbesondere langfristig sauberes Trinkwasser, Nahrungsmittelsicherheit und eine vielfältige, artenreiche und ästhetisch ansprechende Umwelt“, heißt es in dem Papier. Und unter dem Stichwort „Gemeinsame Verantwortung“ schreiben die Autoren und Autorinnen: Im Übrigen stimmen wir dem kritischen Agrarbericht 2010 zu, der feststellt: „Einseitige Verantwortungszuweisungen an die Landwirte, auf die der Berufsstand mit Abwehr reagiert, sind keine Lösung: denn deren Pflanzenschutzstrategien sind nicht nur von wirtschaftlichen und agrarpolitischen Rahmenbedingungen beeinflusst, sondern sie gründen auf dem Einfluss vieler Beteiligter. Über die an den Hochschulen ausgebildeten Berater sowie über die organisierten Informationswege nehmen Expertensysteme der ‚klassischen Agrarwissenschaft‘ Einfluss auf die betrieblichen Entscheidungen. Daher muss der Blick geöffnet werden auf alle beteiligten Akteure, um Lösungsansätze für das gemeinsame Ziel ‚weniger Pestizideinsatz‘ zu entwickeln. Gefördert werden müssen vielmehr gemeinsame Lern- und Umsetzungsprozesse, in die alle Beteiligten ihr Wissen und ihre Kompetenz einbringen können.“ In der aktuellen Diskussion um die Zukunft des Ackerbaus werfen Vertreter des Bauernverbandes oder der Agrarindustrie ihren Kritikern gerne „ideologisches Gedankengut“ vor und plädieren ihrerseits für einen „wissensbasierten“ respektive „wissenschaftsbasierten“ Blick auf die Herausforderungen. Mit dem Diskussionspapier der Leopoldina-Expertengruppe liegt eine „wissenschaftsbasierte“ Expertise vor.
31.05.2018
Von: FebL/PM Leopoldina

Das Diskussionspapier der Leopoldina: Der stumme Frühling – Zur Notwendigkeit eines umweltverträglichen Pflanzenschutzes.