Politisch motivierte Markteinschätzungen

Mit pauschalen Behauptungen von unmittelbar drohenden Futtermittelengpässen will die Agrarindustrie den Rollback einleiten

Wie auch bei konventionellen Futtermitteln hat der Angriffskrieg auf die Ukraine auch im Biobereich bisher wenig beachtete Lieferketten unterbrochen. Vor allem eiweißreiche Futterkomponenten kamen bisher aus der Ukraine und Russland. Spontan fehlte etwa ein Drittel des Proteins. Mit ca. 80 Prozent am stärksten betroffen sind die Geflügelrationen, gefolgt von zehn Prozent bei den Schweinerationen und zehn Prozent bei den Rindern. Durch die faktische Blockade des Schwarzen Meeres, durch Verminung der Häfen und eine Unversicherbarkeit von Schiffen in dieser Region infolge verdrifteter Minen ist auch ein Ausweichen z. B. auf Leinsamenpresskuchen aus kasachischem Leinsamen aktuell nicht möglich. Dennoch, so Rudolf Joost-Meyer zu Bakum, Betreiber eines Biofuttermittelwerks in Melle im Osnabrücker Land in Niedersachsen, zeigen die Zahlen des Verbands der Biofuttermittelhersteller, GOETE, dass zumindest die Versorgung der Verbandsbiobetriebe bis Ende des Jahres zu 90 Prozent gesichert sei. Die Entspannung kommt, weil entgegen mancher Verlautbarungen der Handel mit der Ukraine trotz des Krieges und Millionen flüchtender Menschen noch immer stattfindet, wenn auch auf einem eingeschränkten Niveau. Die klassischen Transportrouten per Schiff fallen aus, weil in den Hafenstädten gekämpft wird und/oder die benötigte Infrastruktur von russischen Luftangriffen bewusst zerstört wurde. Der Warentransport erfolgt jetzt auf dem Landweg per Politisch motivierte Markteinschätzungen Mit pauschalen Behauptungen von unmittelbar drohenden Futtermittelengpässen will die  Agrarindustrie den Rollback einleiten LKW und per Bahn – mit der Erschwernis, dass die Eisenbahn in Osteuropa noch aus den Zeiten der Sowjetunion eine andere Spurweite besitzt. Waggons müssen also an der Grenze umgesetzt oder umgeladen werden.

Verschärfung ausgesetzt
Erleichterung für Biobetriebe verschafft eine vorübergehende Rücknahme der mit der neuen EU-Ökoverordnung eingeführten Verpflichtung von 100 Prozent Biofutter. So hat die „Länderarbeitsgemeinschaft Öko-Landbau“ (LÖK) den Bundesländern empfohlen, dass nach der EU-Ökoverordnung zugelassene konventionelle Eiweißfuttermittel im Rahmen der Fünf-Prozent-Regel wieder für adulte Monogastrier (Schweine, Hühner) eingesetzt werden dürfen. Dies entspricht der Regelung, die bis Ende letzten Jahres Gültigkeit hatte. „Zusätzlich wurde bereits von der EU-Kommission der Entwurf eines Rechtsakts angekündigt, der dieses Vorgehen auf Basis der Katastrophenregel legitimieren soll“, erläutert der Naturland-Verband gegenüber seinen Mitgliedern.

Bioware im konventionellen Markt
Gleichzeitig macht der GOETE-Verband auf das Phänomen aufmerksam, dass offenbar verstärkt ökologische Ware in den konventionellen Markt fließt. In Jahren mit guten Ernten war dieser schon immer das Ventil, allerdings meist als Notlösung, da entsprechend auch nur der geringere konventionelle Preis gezahlt wurde. Aktuell ist dieser aber auf Höchststand und konventionelle Abnehmer können daher kurzfristig eine ökonomisch sinnvoll erscheinende Alternative sein. Diese Praktiken könnten sich langfristig allerdings rächen, warnt Naturland, wenn die konventionellen Preise wieder sinken, aber gleichzeitig der höherpreisige Ökomarkt aufgrund der Nichtverfügbarkeit von Ware Schaden genommen  habe.

Versuch des Ausblicks
In einem Vortrag des Arbeitskreises Schweine der AbL stellte der  Agrarmarktexperte Dr. Klaus-Dieter Schumacher von der Agri-Consult GmbH Seevetal seine Einschätzung für die kommende Ernte vor, immer ausgehend vom aktuellen Wissensstand und Kriegsgeschehen. Sowohl in der Ukraine als auch in Russland seien die Wintergetreide in einem guten Zustand. Auch verlaufe die  Frühjahrsbestellung in Russland weitestgehend normal. In der Ukraine hingegen ist diese nur in den westlichen Gebieten denkbar, so dass von 20 Mio. ha voraussichtlich nur 12 bis14 Mio. ha bestellt werden können. Die knappen Ressourcen (Diesel, Dünger, Pflanzenschutz) wie auch fehlende Arbeitskräfte sind weitere beschränkende Faktoren. Dass der Anbau in Russland „ungestört“ verläuft, entspannt zwar die europäische Marktsituation nicht, dennoch ist davon auszugehen, dass die russischen Erntemengen und auch die aktuellen Lagerbestände, über andere Handelswege exportiert werden und so zu einer Entlastung auf dem Weltmarkt beitragen. Begrenzte Ernte in der Ukraine Die Ernteprognosen in der Ukraine liegen um ca. ein Drittel bis zur Hälfte unter denen des Vorjahres. Selbstverständlich werden Weizen, Mais und Sojabohnen zuerst für die Versorgung der eigenen Bevölkerung und Tierhaltung verwendet werden. Dennoch wird es laut Schumacher, Stand heute, im Herbst und Winter Exporte aus der Ukraine geben: bei Weizen mit 10 Mio. Tonnen ca. die Hälfte des  Vorjahres, bei Mais fast unverändert und bei Soja mit 1 Mio. Tonnen ca. ein Drittel weniger.

Hungernde Menschen
Vergessen werden darf aber bei all diesen Betrachtungen und wirtschaftlich berechtigten Interessen deutscher und europäischer Veredlungswirtschaft nicht, dass eingeschränkte Verfügbarkeit und hohe Preise am Weltmarkt in vielen Regionen der Welt den Hunger der dort lebenden Menschen verschärfen, ohne dass diese eine Möglichkeit haben, auf andere Nahrungsmittel auszuweichen. Auf diese Entwicklung verweisend forderte Martin Banse, Institutsleiter des Thünen-Instituts im Radiosender BR2, kurzfristige Reserven freizusetzen, indem man auf die Produktion von Biodiesel und Ethanol aus Getreide verzichte. „Insgesamt wurden im Jahr 2021 in den deutschen Bioraffinerien 1,3 Mio. Tonnen Zuckerrüben und 2,4 Mio. Tonnen Futtergetreide zu Bioethanol und zusätzlich zu zahlreichen Koppelprodukten wie vor allem gentechnikfreie Proteinfuttermittel, biogenes CO2 oder organische Düngemittel und Biogas verarbeitet“, so der Bundesverband der deutschen  Bioethanolwirtschaft.

Ohne Gentechnik gesichert
Gegen die pauschalen und nicht belegten Behauptungen des Deutschen Raiffeisenverbands (DRV) und des Deutschen Verbands Tiernahrung (DVT), eine „Aufrechterhaltung der Versorgung des breiten Marktes mit gentechnikfreier Ware“ sei „längerfristig nicht realistisch“ verwehrt sich Alexander Hissting, Geschäftsführer des Verbandes Lebensmittel ohne Gentechnik (VLOG) e. V.: „Wäre das Thema nicht viel zu ernst, könnte man die Äußerungen als schlechten Aprilscherz abtun. DRV und DVT versuchen offenbar vorsätzlich, die erfolgreiche Ohne-Gentechnik-Wirtschaft ohne Grundlage in eine Krise zu reden.“ Trotz des Krieges laufen Anbau in und Lieferungen aus der Ukraine derzeit weiter. Nach der Blockade der Häfen konnte der Export landwirtschaftlicher Erzeugnisse per Bahn aktuell deutlich gesteigert werden. Für langfristige Prognosen über mehrere Jahre, wie DRV und DVT sie anstellen, gebe es überhaupt keine seriöse Grundlage, so der VLOG. Die langfristige Entwicklung sei vom weiteren Verlauf des Krieges, vom wetterbedingten Ertragsniveau und von Angebot und Nachfrage weltweit abhängig. „Wenn die entsprechende Nachfrage besteht, werden künftig selbstverständlich auch in anderen Regionen mehr gentechnikfreie Futterpflanzen angebaut“, gibt sich Hissting zuversichtlich.

05.05.2022
Von: Artikel unabhängige Bauernstimme, Marcus Nürnberger