Viele Akteure behaupten, dass die genetischen Veränderungen, die von der Neuen Gentechnik (NGT) bewirkt werden, auch natürlicherweise auftreten können und die Verfahren die bisherige Züchtung (Kreuzung und Selektion sowie Zufallsmutagenese) nur beschleunigen würden. Eine wissenschaftliche Publikation der Fachstelle Gentechnik und Umwelt (FGU) stellte aber schon 2019 fest [1], dass die Gen-Schere CRISPR/Cas das Erbgut aber in deutlich höherem Ausmaß verändern kann als die bisherige Züchtung: Die Gen-Schere verhindert unter anderem, dass die Zellen die ursprünglichen Funktionen der Gene wiederherstellen können, wie das sonst oft der Fall ist. Gelingt es der Zelle, die DNA wieder in die ursprüngliche Form zu bringen, erkennt die Gen-Schere das Gen und schneidet es erneut. Zudem macht die Gen-Schere auch die gleichzeitige Veränderung aller Gen-Kopien eines bestimmten Gens auf einmal möglich, die normalerweise den Ausfall eines dieser Gene kompensieren und dadurch einen Funktionsverlust verhindern können.
Geschützte Regionen im Erbgut
Weitere Forschungsarbeiten der letzten Jahre bestätigen diese Unterschiede zwischen Züchtung und Gentechnik und lassen sie immer deutlicher werden. 2022 wurde eine Publikation in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht [2], die zeigte, dass es im Erbgut von Pflanzen natürliche Mechanismen gibt, die bestimmte Regionen vor zu häufigen Veränderungen schützen. Welche genetischen Veränderungen sich ereignen und in der konventionellen Zucht genutzt werden können, ist demnach nicht (wie bisher angenommen) allein vom Zufall abhängig, sondern wird von der ‚Genomorganisation‘ in den Zellen beeinflusst. Diese Einschränkungen kann die Gen-Schere aber in vielen Fällen überwinden.
Natürlicherweise unwahrscheinlich
Pflanzen und Tiere, die mit bisherigen Methoden gezüchtet wurden, weisen eine sogenannte ‚lange Geschichte der sicheren Nutzung‘ auf, weil ihre genetischen Merkmale nicht die Spielregeln überschreiten, die die Evolution hervorgebracht hat. Mutationen können beispielsweise durch Kontakt mit Chemikalien beschleunigt werden, weichen aber nicht grundsätzlich von den genetischen Varianten ab, die sich über längere Zeiträume auch natürlicherweise ereignen (zufällige Mutagenese). Dagegen sind viele genetische Veränderungen (Genotypen), die die Neue Gentechnik erzeugt, aus Sicht der Evolution genauso unwahrscheinlich wie transgene Pflanzen aus alter Gentechnik, die bspw. ein Insektengift produzieren, das ursprünglich nur in Bodenbakterien vorkommt. In der Folge können sich die Eigenschaften von Organismen, die aus den Verfahren der Neuen Gentechnik hervorgehen, deutlich von denen unterscheiden, die aus konventioneller Züchtung oder natürlichen Prozessen stammen, auch wenn keine zusätzlichen Gene eingefügt werden.
Risiken beabsichtigter Veränderungen
Die Risiken, die mit den beabsichtigen Eigenschaften von Pflanzen und Tieren einhergehen, sind vielfältig: Wie die Beispiele von Leindotter (mit verändertem Ölgehalt), Weizen (zur Reduktion von Gluten in Backwaren), Tomaten (mit erhöhtem Gehalt an Gamma-Aminobuttersäure) und Fischen (schneller an Gewicht zunehmende Meeresbrassen und Kugelfische) zeigen, werden durch NGTs oft extreme Ausformungen biologischer Eigenschaften verursacht oder auch neue Eigenschaften erzeugt, die aus konventioneller Züchtung so kaum zu erwarten sind. Diese erhöhte Eingriffstiefe kann zu Nebenwirkungen (Ausgleichsreaktionen) im Stoffwechsel der Organismen führen, die beispielsweise die Stresstoleranz von Pflanzen schwächen, ihre Interaktionen mit der Umwelt stören oder auch Tierschutzprobleme hervorrufen können. Auch die Lebensmittelsicherheit kann betroffen sein. Diese direkten und indirekten Effekte sind das Ergebnis von Wechselwirkungen im komplexen Netzwerk der Gene, Proteine und anderer biologisch aktiver Moleküle. Derartige unbeabsichtigte Stoffwechselwirkungen und physiologische Reaktionen können auch dann eintreten, wenn der Eingriff ins Erbgut gezielt und präzise ist.
Unbeabsichtigte Veränderungen
Zwar ist es richtig, dass sich auch bei der bisherigen Züchtung ständig zu Mutationen kommt. Doch gehen die technischen Potentiale von Werkzeugen wie CRISPR/Cas auch mit einem großen Potential für unbeabsichtigte genetische Veränderungen einher, die bei der konventionellen Zucht kaum zu erwarten sind. Entsprechend sind auch die Risiken, die mit den unbeabsichtigten gentechnischen Veränderungen einhergehen, vielfältig: Ähnlich wie im Falle der beabsichtigten Eigenschaften können auch unbeabsichtigte genetische Veränderungen zu Genotypen (Muster der genetischen Veränderungen) führen, die sich von denen aus konventioneller Züchtung unterscheiden. Werden diese unbeabsichtigten Effekte übersehen, können sie sich rasch in größeren Populationen ausbreiten. Als Beispiel sind hornlose NGT-Rinder zu nennen, bei denen erst nach einigen Jahren festgestellt wurde, dass auch Gene aus Bakterien, inklusive einer Resistenz gegen Antibiotika, ungewollt in das Erbgut der Tiere gelangt waren. Glücklicherweise waren diese Tiere noch nicht in der kommerziellen Zucht eingesetzt worden. Ansonsten hätten sich diese unerwünschten Merkmale rasch in den Zuchtbeständen ausbreiten können.
Mehrstufige Verfahren
In diesem Zusammenhang muss auch beachtet werden, dass die Verfahren der Neuen Gentechnik mehrere technische Schritte umfassen, die, unabhängig von den beabsichtigten Eigenschaften, mit jeweils eigenen Risiken und ungewollten Veränderungen des Erbguts einhergehen. Beispielsweise wird beim Einsatz der Gen-Schere CRISPR/Cas in Pflanzen regelmäßig auf die ungezielten Verfahren der ‚alten Gentechnik‘ zurückgegriffen, um die für die Bildung der Gen-Schere notwendige DNA in die Zellen einzubringen. Daher sind das Ergebnis des Einsatzes von CRISPR/Cas bei Pflanzen (in den meisten Fällen) zunächst transgene Organismen, die eine Vielzahl von unbeabsichtigten genetischen Veränderungen aufweisen können. Erst am Ende des mehrstufigen Verfahrens werden mit Hilfe von üblichen züchterischen Verfahren die transgenen Abschnitte wieder aus dem Erbgut der Pflanzen entfernt (Segregationszüchtung). Fehlen ausreichende Standards für die Risikoprüfung, können aber die unbeabsichtigten Effekte unbemerkt im Erbgut überdauern, sich rasch in den Populationen ausbreiten und ggf. auch akkumulieren.
Daraus folgt, dass alle gentechnisch veränderten NGT-Organismen einer verpflichtenden Zulassungsprüfung unterzogen werden müssen, bevor sie freigesetzt und/oder vermarktet werden können. Die Risikobewertung muss (wie derzeit von der EU-Gesetzgebung verlangt) alle beabsichtigten und unbeabsichtigten genetischen Veränderungen identifizieren, die durch den Prozess der gentechnischen Verfahren verursacht werden und diese im Hinblick auf mögliche Schäden für Mensch und Umwelt bewerten. Für den Vorschlag der EU-Kommission, bestimmte Gruppen von Pflanzen aus neuer Gentechnik von der bisherigen Gentechnik-Regulierung auszunehmen, gibt es keine ausreichende wissenschaftliche Grundlage.
Weitere Infos: www.testbiotech.org/node/2816
Referenzen:
[1] Kawall K. (2019) New possibilities on the horizon: genome editing makes the whole genome accessible for changes. Front Plant Sci, 10: 525. https://doi.org/10.3389/fpls.2019.00525
[2] Monroe G., Srikant T., Carbonell-Bejerano P., Becker C., Lensink M., Exposito-Alonso M., Klein M., Hildebrandt J., Neumann N., Kliebenstein D., Weng M.-L., Imbert E., Ågren J., Rutter M.T., Fenster C.B., Weigel D. (2022) Mutation bias reflects natural selection in Arabidopsis thaliana. Nature, 602: 101-105. https://doi.org/10.1038/s41586-021-04269-6