„Neutrale“ Wissenschaftler:innen mit Eigeninteressen

Neuer Bericht deckt kommerzielle Interessen von Agrobiotech-Wissenschaftler:innen auf

Zahlreiche europäische Wissenschaftler:innen, die in der landwirtschaftlichen Biotechnologieforschung tätig sind, haben durch Patente, Patentanmeldungen oder Verbindungen zur Saatgutindustrie ein direktes oder indirektes Eigeninteresse an der Vermarktung von Pflanzen, die mit diesen Techniken hergestellt wurden. Dies ist brisant, weil diese Wissenschaftler:innen sich aktiv für eine Deregulierung der neuen Gentechniken einsetzen. Der aktuelle Bericht wurde von den Grünen/EFA im Europäischen Parlament in Auftrag gegeben.

Mangelnde Transparenz

 „Der Bericht macht klar, dass die politischen Entscheidungsträger den Behauptungen von Lobbygruppen, die die Vorteile und die Sicherheit dieser neuen Gentechnik-Pflanzen verkünden, sehr kritisch gegenüberstehen müssen. Stattdessen sollten sie fachkundigen Rat von unabhängigen Wissenschaftler:innenn einholen, die keine Interessen an der Kommerzialisierung von Gentechniken und GVO-Produkten haben,“ kommentiert Nina Holland, Forscherin bei CEO (Corporate Europe Observatory) und eine der Autor:innen. Martin Häusling, agrarpolitischer Sprecher der EU-Grünen ergänzt, es sei „besonders perfide, wenn sich Gentechnikforscher:innen, mit ökonomischen Interessen an Patenten zur neuen Gentechnik zu Fürsprecher:innen für die Deregulierung machen. (…) Konzerne wie Corteva, Bayer und BASF könnten so in der zweiten Reihe bleiben und ‚die Wissenschaft‘ in den Lobbykampagnen zur Deregulierung für sich sprechen lassen.“ Sein Kollege Thomas Waitz forderte von der  EU-Kommission  Transparenz herzustellen. Berater:innen und Wissenschaftler:innen mit etwaigen Interessenskonflikten müssten klar benannt werden.

Patente und Unternehmensbeteiligungen

Seit dem Urteil des Europäische Gerichtshof (EuGH, 25. Juli 2018), dass alle Produkte, die aus neuen Gentechniken wie CRISPR stammen, gentechnisch veränderte Organismen (GVO)  sind und sie als solche reguliert werden müssen, hat eine verstärkte Lobbykampagne der Gentechnik-Industrie und ihrer Verbündeten die EU-Gentechnik-Vorschriften ins Visier genommen. Ziel der Lobbyisten ist es, die europäischen Politiker davon zu überzeugen, die Kommerzialisierung von GV-Pflanzen und GV-Tieren zuzulassen ohne Risikoprüfung und -bewertung, Zulassungsverfahren, Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung.

Bei der koordinierten Lobbykampagne auf EU-Ebene sind vor allem drei Wissenschafts-Organisationen beteiligt: Der European Plant Science Organisation (EPSO), das EU-Netzwerk für nachhaltige Landwirtschaft durch Genom-Editierung (EU-SAGE) und der Verbund der Akademien der Wissenschaften in Europa (ALLEA) bzw. ihrer Arbeitsgruppe Agrartechnologien. Die Recherchen ergaben, dass zwei Drittel der Mitglieder der EPSO-Arbeitsgruppe und ein Drittel der EU-SAGE-Mitglieder „ein persönliches Interesse an der Kommerzialisierung von GV-Pflanzen haben“, da sie entweder selbst oder über ihre Organisation finanziell oder bei ihrer beruflichen Entwicklung davon profitieren würden. Knappe 40% der EPSO-Arbeitsgruppen-Mitglieder und über 20% des EU-SAGE-Netzwerkes besäßen ein oder mehrere Patente oder Patentanmeldungen in Zusammenhang mit gentechnischen Verfahren oder Produkten. Über 50% der Mitglieder der EPSO-Arbeitsgruppe und über 15% der EU-SAGE-Mitglieder waren an einem oder mehreren Industrie-Forschungsprojekten beteiligt. Zum Teil halten Einzelpersonen eine Position in Biotechnologie-Unternehmen oder halten Unternehmensanteile. Auch der europäische Zusammenschluss der Wissenschaftsakademien ALLEA hat wesentlich zum Lobbying beigetragen. Einige Mitgliedsorganisationen haben eindeutige wirtschaftliche Interessen oder beteiligen sich an der Lobbyarbeit auf EU-Ebene. So haben 5 von 16 Autor:innen einer Erklärung der deutschen Leopoldina entweder Verbindungen zur Biotechnologie-Industrie oder besitzen Patente im Bereich der neuen Gentechniken, wie Testbiotech aufzeigte. Laut Studie spiele Deutschland eine bedeutende Rolle: knapp ein Fünftel der Personen, die bei der EPSO und EU-SAGE beteiligt sind, stammen aus Deutschland. In dem Bericht werden auch die Eigeninteressen einiger Wissenschaftler:innen bzw. Institutionen aus Deutschland dargestellt, darunter Mitarbeiter:innen des bundeseigene Julius-Kühn-Instituts (JKI), des Max-Planck-Instituts für Entwicklungsbiologie und dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT).

Breite Expertise und unabhängige Wissenschaftler gefragt

Ein weiterer Befund der Studie ist, dass 98% der Mitglieder der EPSO-Arbeitsgruppe und 83% der Mitglieder des EU-SAGE-Netzwerkes Molekularbiologen sind. Im Umkehrschluss ist die Expertise im Bereich Ökologie, Agrarökologie, Sozioökonomie, Toxikologie, Gesundheit komplett unterrepräsentiert bzw. nicht vorhanden. Diese Fachexpertise ist aber mindestens ebenso relevant bei der Bewertung möglicher negativer Folgen des Einsatzes neuer Gentechniken in der Landwirtschaft und muss dringend mit einbezogen werden, so die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft. Dies zeigt auch, dass es „die Wissenschaft“ nicht gibt, sondern dass eine Vielzahl von Fachrichtungen benötigt werden, um eine tatsächlich umfassende Bewertung der neuen Technologien vornehmen zu können.

 „Präzisions“-Begriff führt in die Irre

Der Bericht zeigt auch die Lobby-Narrative der Gentechnik-Wiisenschaftler:innen auf: die Veränderungen „könnten auch in der Natur vorkommen“, die GV-Pflanzen seien „präzise und sicher“ und die Techniken seien notwendig, um die Nachhaltigkeitsziele der EU und klimaanpassungsfähige Pflanzen zu erreichen. Dem steht entgegen, dass es bisher solche neuen Gentechnik-Pflanzen nicht gibt – weder auf dem Acker noch in den Forschungspipelines. Das Zusammenspiel der Gene bei komplexen Eigenschaften ist weitgehend unerforscht, ebenso die Auswirkungen, die solch weitgehende Veränderungen auf die Ökosysteme hätten. Dass neue Gentechniken weder präzise noch Züchtung sind, darauf verwiese jüngst 100 internationale Wissenschaftler- und Politikexpert:innen. Sie sprechen sich gegen den Begriff „Präzisionszüchtung“ zur Beschreibung der neuen Gentechnik-Verfahren aus. Der Begriff sei „technisch und wissenschaftlich ungenau“, er führe Behörden, Politiker:innen und die Öffentlichkeit in die Irre und sei gefährlich, da die „Deregulierung dieser neuen Techniken schwerwiegende sozioökonomische Folgen sowie potenziell schwerwiegende Auswirkungen auf Gesundheit und Umwelt haben wird“, so die Unterzeichner:innen. Hingegen gebe es überzeugende Studien, die zeigen, dass es eine strenge Regulierung von GV-Pflanzen geben muss, einschließlich einer gründlichen Risikobewertung der Auswirkungen auf die Gesundheit von Mensch und Tier sowie auf die Umwelt und einer vollständigen Rückverfolgbarkeit und einer eindeutigen GVO-Kennzeichnung.

Risikoforschung fördern

Die Grünen im Europa-Parlament fordern, dass EU-Forschungsgelder die Entwicklung von Nachweisverfahren unterstützen sowie mögliche Risiken der neuen Gentechnik Organismen untersuchen müssten. Bei Stellungnahmen von Wissenschaftler:innen und deren Organisationen seien die Interessen stets offenzulegen und transparent zu machen. Insbesondere müsse die fachkundige Meinung von tatsächlich unabhängigen Wissenschaftler:innen eingeholt werden, die sich dezidiert mit den Risiken dieser Technologien befassen.

Bericht: „Behind the smokescreen“, Langfassung Englisch: www.greens-efa.eu/en/article/study/behind-the-smokescreen

Zusammenfassung der Studie „„Behind the smokescreen“ auf Deutsch: https://thomaswaitz.eu/language/de/neue-gentechnik-wie-unabhaengig-ist-die-wissenschaft/

CEO: https://corporateeurope.org/en/2021/03/uncovered-biotech-industrys-latest-lobby-tactics-deregulate-new-gm-crops-and-animals-europe

 

 

02.11.2022
Von: Annemarie Volling, Artikel in Unabhängige Bauernstimme
Dateien:
Neutrale_Wissenschaftlerinnen_mit_Eigeninteressen_BS_11_2022.pdf